Sterz 80: Gerald Brettschuh: Menschenbilder

Herausgeber: Klaus Kada, Heinz Musker, Herbert Nichols-Schweiger, Dieter Schoeller, Heimo Steps, Peter Strasser, Gerd Tiefner, Heribert Watzke.
Redaktion: Gernot Lauffer, Ludwig Frege. Gestaltung: Gernot Lauffer. Druck: styrian gmbh. Sponsor: ESTAG – Energie Steiermark Holding AG.

Gernot Lauffer: Zu Gerald Brettschuhs "Menschenbilder":
Im Sterz ist alles möglich, wenn es nur (ab)druckbar ist. Es gibt keine Präferenzen, was Manier, Stil und Mitteilungsmittel betrifft. Das ausschließliche Streben nach der Position der sogenannten Avantgarde ist dem Sterz genauso fremd wie die Gegnerschaft zu ihr. Alles soll möglich sein, auch die Qualitätsansprüche sind beim Sterz relativ. Als einem Organ (auch) der Ermunterung stellen sich immer die Fragen: Wer? Was? Wann? Wie? Wo? Warum? Deshalb gibt es im Sterz auch die umfangreichen Biografien. Sie vermitteln eine Ahnung vom Menschen hinter dem Beitrag, von seinem Werdegang, seiner Situation. Eingeführt in den Sterz hat diese Haltung nicht zuletzt Gerald Brettschuh, indem er Menschen auch aus seiner ländlichen Umgebung zur kreativen Produktion ermutigte und oft auch den Abdruck durchsetzte.
Seine eigene Position in der Kunst ist von ungenierter Eigenständigkeit. Er ist unbeeinflußt von letzten, allerneuesten Entwicklungen, denen er jedoch neugierig und interessiert gegenübersteht, aber – was hat das mit ihm zu tun, mit seinem spezifischen Ausdrucksbedürfnis? In seinem Kosmos hat vieles Platz. Diese Unbeeinflußbarkeit, dieses Auseinanderhalten von Innen- und Außenwelt, diese Gewißheit von der Notwendigkeit und Richtigkeit seines Tuns drückt sich vielleicht am besten in den Zeichnungen aus, mit denen er seine Skizzenbücher füllt. Sie stehen in verwandtem Gegensatz zu seiner Malerei, der er sich in den letzten Jahren verstärkt widmet.
Diese neugierige Offenheit nach allen Seiten hat den Sterzstil geprägt, und sie dauert an, obwohl sich G. B. schon längst an seine Staffelei zurückgezogen hat. Sie hat dem Sterz schon viele bemerkenswerte Beiträge und eine vielfältige Anhängerschaft beschert.
Es ist (fast) unmöglich, von Gerald Brettschuh nicht gezeichnet zu werden. Eine Weile mit ihm im Gasthaus, und schon kann es passieren, daß man von ihm starr fixiert wird, daß G. B. förmlich durch einen hindurchsieht und das Bild, ohne aufs Blatt zu schauen, in sein Skizzenbuch graviert.
Seit Jahrzehnten hält er den Eindruck des Augenblicks fest, in Arnfels, in Irland, in Kanada …, im Krankenhaus, im Autobus, in der Buschenschank …, überall, wo G. B. unterwegs ist, fixiert er die Menschen, fixiert er den Augenblick. Oft schreibt er die Namen über deren Köpfe, die dann wie Heiligenscheine über den Scheiteln schweben, schreibt Wortfetzen dazu, Zitate des Augenblicks, gibt den Grafiken Titel, die aus seiner imaginären Welt stammen, aus Coopers Lederstrumpf und aus Joyces Ulysses, aus den Jugo-Sagas des Ivo Andric …, in Cyrillisch, auf Englisch, Slowenisch, Polnisch …
Es sind Tagebuchnotizen, spontan, subjektiv, irrational, absurd, erhöhend, vernichtend, sentimental, aggressiv. Seine Innenwelt tritt nach außen, Eindrücke, Empfindungen, Assoziationen und Reaktionen materialisieren sich auf dem Papier. Die Welt des Gerald B., wie er sie sieht, äußert sich in seinen geheimnisvollen, verqueren, oft undurchschaubaren und unerklärbaren Strichen, in seinen wüsten Krakeleien, seinen brutalen Verzerrungen, seinen Deformationen, die mitunter knapp am Irrsinn und am Dilettantismus vorbeischrammen, und gerade in dieser haarscharfen Nähe liegt Reiz und Meisterschaft.
Das Geheimnis seiner Person, die Gewalt seines Antriebes, seine Position in der Welt, sein Kosmos, seine Sicht, seine Perspektive, sein Verhältnis zu den Dingen und den Menschen, wie er zu ihnen stehen will und wie er kann, teilt er mit in seinen Strichzeichnungen, seinen colorierten Grafiken, seinen Aquarellen und seinen Ölbildern. Wie er die Menschen festnagelt mit seinem abwesenden Fixierblick, wie er die Menschen, vorzugsweise Frauen, dazu bringt, ihm als Modell zur Verfügung zu stehen, wie er den Menschen das Gefühl von Einmaligkeit und Einzigartigkeit gibt, ist ein Teil seiner Aneignung der Welt über den kreativen Akt.
Wie die meisten Künstler hat er eine ursprüngliche, eine kindliche Einstellung zur Welt, ist er in der Phase der Entdeckung, Eroberung und Erklärung steckengeblieben, muß er alle und alles und jeden und jedes "begreifen", mit dem Bleistift, dem Pinsel nachvollziehen, kennenlernen, erobern, vereinnahmen, aneignen. Gezeichnet oder gemalt hat er sich das Objekt einverleibt, in immer neuen Szenen und Varianten, der bzw. das so Erfaßte wird mit jeder Sitzung, jedem Abbildungsvorgang mehr ein Bestandteil seines Panoptikums, der bizarren Welt seiner Bezüge und Interpretationen. Seine Liebe, sein Haß und seine Gleichgültigkeit, seine Begierde und sein Desinteresse manifestiert sich in den Blättern, in den geheimnisvollen Schriftzeichen des Häßlichen wie in der Zuwendung einer akribischen Durchzeichnung. "Bastard" steht mitunter bei einer Zeichnung, und da hat ihn wohl eine Erinnerung übermannt.
Manch einer kriegt eine Kopie von der Be-Zeichnung der Brettschuhschen Beobachtungen, Favoriten ein Original, manchmal, in einer besonders heroischen Geste, gleich nach dem Zeichenakt. In einer Zeremonie der Nobilitierung wird der Porträtierte beschenkt, ausgezeichnet, beglückt, als wäre er unmittelbar in die Halle des ewigen Ruhmes aufgenommen worden, in der alle Eingang finden, die als Porträtierte an der Unsterblichkeit des Künstlers teilhaben.
Ein Hauch von Ewigkeit, Gedanken an die großen Meister, G. B. glaubt daran, lebt danach, weiß es und teilt es mit in der Gewißheit des Strichs, in der Kraft der Komposition, in der Unmißverständlichkeit seiner Haltung. Diese Gewißheit geht auf seine Umgebung über, und an dieser Gewißheit hat sie Anteil, ihr können sich die wenigsten entziehen, weder die Eingeweihten noch der "kleine" Mann, der mit Kunst nichts anzufangen weiß. Gerührt über die Zuwendung unterwirft er sich seiner Sicht und sieht sich durch das Auge des Künstlers, akzeptiert ein Bild seiner selbst, mit dem er an sich wenig oder nichts zu tun hat.
Der Wert, den der Künstler seinen Zeichnungen zumißt, beruht auf der Bedeutung, die er für sich selbst in Anspruch nimmt. Es liegt ein Erstaunen in seinem Agieren und Sehen, daß es ihm gelungen ist, seine Einzigartigkeit, die ihm als einzigem Sohn und jüngstem von drei Kindern einer Kriegerwitwe vermittelt wurde, in die rauhe Wirklichkeit des Erwachsenenlebens retten zu können. Das Erstaunen, daß die Gesetze des Indianerspiels auch in der Erwachsenenwelt durchsetzbar sind, und die Gewißheit, daß diese Erlebnisse und Erfahrungen die einzig wichtigen sind.
Seine Grafiken sind seine Zeugungen, seine Geburten, seine Kinder. In ihnen findet ein ewig neuer Akt der Selbstbefruchtung, der Selbstvermehrung, der Selbstikonisierung statt. Sie sind Konserven, Erinnerungsträger, Leitfossilien aus dem Magazin seiner Gefühle, die er über diese jederzeit abrufen, reaktivieren kann. Mit seinen Grafiken kann er sich auf zauberische Weise zurückversetzen und fast entschwinden. Und die Umgebung spielt mit, muß mitspielen, darf mitspielen, will mitspielen, läßt sich verführen in die fast mittelalterliche Welt des Bauernhofs der Großmutter, in das hermetische Glück der Knabenspiele, in seine Wiener Jahre … Als wäre die Zeit nicht vergangen, sind seine Beziehungen zu alten Bäuerlein, zu Kühen und Pferden genauso aufrecht wie zu den "Boys" der EAV, die er an der Angewandten betreute. Seine Zeit vergeht (fast) nicht, sie staut sich, häuft sich an, türmt sich in immer neuen Faltungen und lagert sich in seinen Bildern und Büchern ab. Und wenn er in Rom zufällig Boxer im Fernsehen sieht, überflutet ihn wieder das Körpergefühl des Kämpfers im Ring, jede Haltung, jede Aktion, jede Abwehr lebt er mit, das Mitfühlen wird zum Mitwissen und es fließt aus seinem Herzen in seinen Leib, in seinen Arm, in seine Hand, in seinen Griffel, auf das Papier.

Gerald Brettschuh: Geboren am 8. April 1941 in Arnfels. Ausbildung an der Kunstgewerbeschule in Graz, an der Akademie für Angewandte Kunst in Wien und an der Akademie der Schönen Künste in Warschau. Als Grafiker und Illustrator für Verlage, Zeitungen, Agenturen tätig. Sechs Jahre Lehrbeauftragter an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien. 1976 Rückkehr nach Arnfels zu einem Leben in der Freiheit des Freischaffenden.
Von 1977-1989 Mitgestalter, -autor und -herausgeber der Kulturzeitschrift STERZ.
Publikationen: "Ein Jodler für Johann" (1980), "Füllen der Leere" (1983), "24 Bilder" (1987), "Box-Bilder" (1987), "Out of Arnfels" (1990), "Jahr um Jahr" (1991), "Frauenschuh" (1994), "Argamak und Luza" (1997), "Huronen und Andere" (1999).